Es war einmal ein Chamäleon, das hatte sich eines
schönen Tages - getrieben von längst vergessenen Umständen - auf
einen Baum gesetzt und glaubte fortan, da es, wie diesem Lebewesen
zueigen, sein Erscheinungsbild der äußeren Umgebung angepasst hatte,
selbst ein Baum zu sein.
Die Vorzüge des gewählten Platzes sind nicht zu leugnen, man denke
an den Blick, den man von der Baumkrone aus hat, Überschaubarkeit in
jede beliebige Richtung, zudem ein Gefühl der Überlegenheit
gegenüber den Nichtigkeiten der scheinbar sinn- und
zweckentfremdeten Regsamkeit am Boden. Gleich kleinen schwarzen
Punkten, die, dem Zufall überlassen, immer neue Muster bilden, ohne
ein System, ohne eine Absicht zu verfolgen.
Oder die Stärke eines Baumes, begründet (im wahrsten Sinne des
Wortes) in seinen Wurzeln, die ihn unverrückbar und standfest sein
lassen, gleich einem ewigen Mittel- und Bezugspunkt, der Schutz und
Zuflucht gewährt.
Oder das Laub, das, wie ein hübsches Kleid, ein wunderschöner
Anblick ist und jeden Betrachter zur Verzückung einlädt.
Dem wäre noch einiges hinzuzufügen, aber ich denke, ihr wisst, wovon
ich spreche: Ein Positivum, das viele Freunde hat.
Kein Wunder also, dass sich das Chamäleon diesen Standort seiner (Selbst-)Betrachtung
auserkoren hatte. Gelegentlich ließen sich Vögel auf den Ästen des
Baumes nieder oder bevölkerte Kleingetier ihn. Sie alle lobten seine
Einzigartigkeit und priesen seinen Nutzen.
"Ja, ich bin ein Baum", dachte das Chamäleon, und es legte alles daran, ihm mehr
und mehr zu entsprechen.
Und die einzige Bewegung bestand darin, dass es dem Wechsel der
Jahreszeiten folgte und seine Gestalt veränderte, wie es die Zeit
gerade erforderte.
Und es erfuhr Bestätigung durch all die genannten mehr oder minder
flüchtigen Besucher, die ihm gern stets versicherten: "Ja, Du bist
ein Baum", da sie keine andere Wahrheit kannten.
So lebte es sein Leben fort, ohne sich zu wünschen an einen anderen
Ort.
Da geschah es, dass einmal ein Wesen seinen Weg zu dem Baume fand,
das sich sehr von den sonst üblichen Gästen unterschied, denn es
nahm sofort die Farbe des Baumes an, sobald es sich ihm näherte.
Jenes Geschöpf wollte erkunden und daher traf es recht
schnell auf das Chamäleon.
"Wer bist Du?"
"Ich bin ein Baum."
"Du wirkst mir ähnlich - und weil ich ein Chamäleon bin, denke ich,
dass auch Du ein Chamäleon bist!"
"Ich bin ein Baum."
Im folgenden, zugegebenermaßen recht flüchtigen Gespräch - denn das
eine erreichte nicht den Urgrund des anderen - vermochte das
Chamäleon, das sich als solches erkannte, das Chamäleon, das sich an
den Glauben klammerte, ein Baum zu sein, nicht von der
Vielfältigkeit seiner Art - verschiedene Varianten eines
facettenreichen Wesens -
zu überzeugen.
"Du willst mich unfrei machen, indem Du mich dazu bringst, ein
Leben als Chamäleon zu wagen, das allein auf Mutmaßungen gründet - denn ein jeder sagt mir, ich sei ein Baum!" war nur, was das
Chamäleon, das es nicht besser wusste, bemerkte. Und es begriff
nicht, dass der Wille des Chamäleons, das sich als solches erkannte,
tatsächlich war, ihm Freiheit zu eröffnen.
"Ich bin ein Baum, Punkt und Schluss; komm mir nicht zu nahe, denn
mein Vertrauen gehört denen, die mir sagen, dass ich bin, was ich sein
will. Du siehst, es bleibt nichts für Dich und wenn Du möchtest, was
nicht verfügbar ist, so geh."
Das Chamäleon ging.
Es soll nicht an dieser Stelle stehen, was das auf das andere
Zulaufende fühlte und dachte, aber es ging - erschüttert in seinem
Glauben an die Verwandtschaft.
Es kann nicht an dieser Stelle stehen, was das vor dem
anderen Weglaufende fühlte und dachte - ich selbst zähle zu den
Uneingeweihten - aber es ist davon auszugehen, dass es nach wie vor
der Überzeugung ist, ein Baum zu sein.
Und wenn da nichts den Baum gefällt,
dann sitzt es dort noch heut'.
Es bleibt die Hoffnung, dass es der Axt zuvorkomme und den Sprung
auf die Erde wage - auf dass dieses Märchen ein gutes Ende nehme.
Ansonsten - ist es
wohl doch kein Märchen...
(1995) | © Saskia Katharina Krost