Ein ganz normaler, spirituell begnadeter Tag


 

Kaum etwas gestaltet sich heiterer, als ein Ausflug in die 'spirituelle Szene'. Denn dort, wo wir meinen, den Göttern extraordinär nahe zu sein - menschelt es häufig ganz besonders...

 

5:00: Ich erwache von dem lieblichen Gezwitscher der Vögel, räkle mich wohlig im noch nachtwarmen Bett, öffne die Augen und schaue einem wundervollen, mich innig umarmenden Tag ins Gesicht. Ich bin ausgeschlafen und fühle mich voller Tatendrang.

Nun gut, ich will ehrlich sein – ganz so war es gerade heute nicht. Tatsächlich bin ich um 5:06 aus dem Schlaf geschreckt, musste feststellen, dass ich meinen Wecker überhört hatte - trotzdem ich indessen zwei von ihnen besitze, einen unter jedes Ohr gebunden, eine äußerst bewährte Methode -, und musste zusehen, dass ich eiligst aus den Federn komme. Denn: Mein gesamter Zeitplan gerät in Gefahr. Doch selbst die Vögel schlafen heute noch - vielleicht haben sie recht.

 

5:17: Zwar stehen meine Lider jetzt dauerhaft offen und ich habe mittlerweile 3 Tassen Getreidekaffee intus, Lebenselixier eines jeden spirituell agilen Menschen, wahlweise auch zu ersetzen durch: ein Glas energetisiertes Wasser, Kommt-All-Ihr-Englein-Tee, einen Knoblauchsaft (Rohkost), einen Becher reine Luft (Lichtnahrung) oder einen Wodka – es wird offenbar, die spirituelle Küche ist äußerst abwechslungsreich - allerdings ist mir in der Zwischenzeit siedend heiß eingefallen, dass ich vergessen habe, mit einem Lächeln zu erwachen. Flugs lege ich mich daher erneut ins Bett, simuliere den Nachtschlaf, daraufhin das Erwachen – und lächle. Na wunderbar, auch das hat noch geklappt – es kann weitergehen.

 

5:26: Zähneputzen, Duschen sowie sonstige Badaktivitäten müssen ausnahmsweise entfallen (seit mittlerweile zwei Wochen komme ich nicht mehr dazu, allein aus dem Grund, dass ich unter akuten Aufwachstörungen leide - eine Symptomatik, deren metaphysische Ursache mir bis hierher leider gänzlich unbekannt bleiben musste - ich sollte hierzu gelegentlich die geistige Welt befragen). Doch da ich tatsächlich ziemlich im Zeitverzug bin, dennoch aber unbedingt zu meditieren habe, bin ich gezwungen, Prioritäten zu setzen. Da es Gott jedoch weniger zu interessieren scheint, ob ich zum Himmel stinke, sondern im wirklichen und wesentlichen zählt, dass ich weiß, dass ich zum Himmel stinke (=Bewusstsein), werde ich wiederholt beide Augen zudrücken. Denn: Ich weiß, dass ich zum Himmel stinke. Also kann ich mich zweifelsfrei aufs Meditieren verlegen. Es wartet weiteres Bewusstsein auf mich.

 

13:15: Mit Mühe und Anstrengung habe ich alle Elemente der von mir täglich absolvierten spirituellen Geistarbeit unterbekommen können. Knapp aber dennoch. Flehende Gebete für diese Welt, Heilaffirmationen, Licht- und Liebesvisualisierungen, Invokationen (ich hatte vergessen, wen oder was ich anzurufen habe, aber egal, ich habe ihn oder es dennoch gerufen) und nicht zuletzt realistisches Aufstiegstraining in natürlich-gewohnter Umgebung – alles getätigt. Lediglich bin ich heute nicht dazu gekommen, meine DNS-Neukodierung entsprechend voranzutreiben, denn der hierfür zweifelsfrei benötigte DNS-Strang (schlussendlich werde ich 12 hiervon besitzen, die mir im Verein das Gesamt meiner göttlichen Fähigkeiten zurückgeben werden), dieser besagte DNS-Strang, der mir seit Tagen geliefert sein sollte, findet sich in genau diesem Moment in meinem Postfach hinterlegt. (Ich hatte ihn mir auf Rechnung zusenden lassen – man weiß ja nie.) In meinem Postfach liegt er zweifellos gut, Tatsache aber ist, dass ich es schon länger nicht mehr dorthin geschafft habe. Ich werde diesen Punkt nachholen müssen. Gleich morgen.

Und schließlich war es auch ohne dies wahrhaft wieder äußerst erhellend heute. Das Meditieren meine ich - nicht die mittlerweile hoch am Himmel stehende Sonne. Aber diese nützt mir zweifelsfrei auch. Nun kann ich lesen. Spirituelle Schriften, will meinen, und ganz ohne künstliches Licht zu benutzen. Welches fraglos jedweden göttlich-inspirierten Charakters entbehrt und daher auch kaum von mir verwendet wird - dies der einzige Grund, weshalb mir mein spirituell inspirierter Alltag im Winter geringfügig schwerer fällt.

 

15:47: Mein Nachbar hat geklingelt. Ob denn alles in Ordnung wäre, es sei so ausnehmend still bei mir an diesem Tag. Selbstverständlich ist alles in Ordnung, ich lese. Natürlich hat er nur einen Vorwand benutzt - bei mir ist es immer ausnehmend still. Wie auch sonst, wenn ich hören möchte, wie das Universum mir spricht. Tatsächlich wollte er eine Tasse energetisiertes Wasser mit mir trinken, ich wähnte zudem, Kuchen in seiner Hand zu sehen. Tut mir leid, aber für derlei weltliche Zerstreuung bleibt mir beileibe keine Zeit, ich muss mich wertvollem spirituellen Studium widmen. Ich lese ein Buch. In diesem Fall ein Buch über die konkrete Praxis der Nächstenliebe.

 

16:08: Irgendwie hat es mein Nachbar erreicht, mich gänzlich meiner Konzentration zu berauben. Er geht mir in der Tat bisweilen auf den Keks - auch wenn er wirklich nett ist. Und dennoch vergeht kein einziges Jahr, in dem er nicht einmal bei mir klingelt.

Nun ja, ich möchte ihm zugute halten, dass er nicht wirklich über das Ausmaß erforderlichen Arbeitseinsatzes eines spirituell engagierten Menschen im Bilde ist, dafür kann er ja schließlich nichts. Obwohl, andererseits hätte er sich schon längst einmal mit mir darüber unterhalten können. Bei einer Tasse energetisiertem Wasser und Kuchen vielleicht – aber auf die Idee kommt er ja nicht. Stattdessen stört er mich und hält mich allein aus dem Grund absolut irdisch basierter Bedürfnislage von meiner fürwahr so bedeutsamen Arbeit ab.

 

Nun gut, dann werde ich eben Beweis meiner ausgeprägten Flexibilität erbringen - höchste Tugend jedes spirituell Engagierten - als der ich es immer und überall verstehe, gekonnt auf aktuelles Zeitgeschehen zu reagieren. Ich trete in die aktive Phase meines Tagesablaufs ein, 7 Minuten früher als beabsichtigt. Nein, nein, kein Hatha-Yoga, das bekommt mir nicht. Viel zu anregend seine Wirkung, bin ich doch letztlich den ganzen Tag ausschließlich in schweißtreibender Aktion. Ich brauche Beruhigung. Die aber finde ich wo? Natürlich, bei meinen spirituellen Brüdern und Schwestern im Geiste. Ihre Liebe zur mir wirkt tatsächlich zehntausend-, was sage ich, millionenfach beruhigender auf mich als jede übliche zwischenmenschliche Begegnung. Welch letztgenannte ich überdies in der Tat schon lange nicht mehr benötige. Das spirituelle Dasein entbürdete mich. Dennoch: Der Frieden, die Harmonie und die Eintracht, die im Kreise meiner spirituellen Geschwister herrschen, führen mir vor, dass die spirituelle Beschäftigung ohne jeden Zweifel ein zukunftsträchtiges Lebensmodell darstellt. Eines, das alle Probleme dieser Welt von heute auf morgen zu lösen wüsste. Ich schalte den Computer ein - nein, ich habe noch niemanden von ihnen persönlich kennen gelernt, wir pflegen ausschließlich verträgliche (und hygienisch unbedenklichere) Formen des innigen Kontakts - gehe ins Internet und betrete unsere Plattform. Rein virtuell versteht sich. Nun gut, was machen meine geliebten Gefährten gerade? Einen Moment, ich habe die Tür zu unserem, nebenbei bemerkt: äußerst geschmackvoll eingerichteten, "Raum der Begegnung" sogleich geöffnet – oh, nein, sie streiten sich. Das kommt mir jetzt aber wirklich ungelegen. Und überhaupt, haben sie diese Woche schon irgendetwas anderes getan? Diesen Monat, dieses Jahr? Was soll’s, dann muss ich eben umdisponieren. Ich trinke einen Wodka.

 

17:02: Ich habe die zurückliegende Zeit spirituell vorbildlich genutzt: Derweil habe ich mir geschwind die neuesten drei Dutzend zeitnah erschienener spiritueller Errungenschaften im World-Wide-Web bestellt, die selbstverständlich gerade einmal bis übermorgen reichen werden. Mir oberstes Gesetz: Immer schön auf dem Laufenden bleiben. Nun aber steht die spirituelle Erziehung auf dem Programm.

Ob die fünf Wodka, die ich mir in der Zwischenzeit zu Gemüte geführt habe, meiner für diesen Zweck dringend benötigten differenzierten Artikulation allerdings gut getan haben – ich entbehrte schließlich des überaus wichtigen Tagesbestandteils der Beruhigung – ich bin mir nicht sicher. Ich stelle einen Versuch bei meiner Katze an – sie versteht mich nicht. Dies aber beunruhigt mich zusehends, der Wodka war demnach für die Katz. Nicht für meine natürlich. Selbstredend nicht. Aber den Wodka - den muss ich mir abgewöhnen.

 

17:15: Spirituelle Erziehung: Ich suche meine gesamte umliegende Gemeinde auf, mit Ausnahme besagten Nachbarn natürlich - nachher sucht er wieder den persönlichen Kontakt - und kläre über den Segen der spirituellen Beschäftigung auf. Ganz diskret natürlich, schließlich will ich niemanden vergrämen. Aus diesem Grund geselle ich mich, wie selbstverständlich, jeweilig ihrem Abendessen hinzu.

Ich honoriere ihre aufmerksame Bewirtung mit dem Fallenlassen der ein oder anderen spirituellen Vokabel und trete zu vorgerückter Abendstunde meinen Heimweg an. Meine Güte, bin ich satt. Ganz so übel sind die Menschen allerdings nicht -eigentlich dennoch: Sie haben noch viel zu lernen. Aber Kochen können sie. Naja. Für den Rest haben sie ja mich.

 

21: 58: Nun tue ich etwas, das eigentlich mein Geheimnis bleiben möchte. Zudem das letzte, in der Tat allerletzte Überbleibsel aus meinem weltlich orientierten Vorleben (es sei denn, der Wodka sollte wider Erwarten gleichfalls in diese Kategorie fallen). Ich sehe fern. Allerdings heimlich. Zu blamabel und unangenehm empfände ich es, wenn mich einer meiner spirituellen Brüder und Schwestern hierbei ertappen würde. Daher verhänge ich sorgfältig Fenster und Türen, letztere dichte ich zusätzlich ab, gehe ab hier an nicht mehr ans Telefon, und gebe mich nun endlich der einzig meinem Alltag verbliebenen Sinnenfreude hin. Oh. Ich möchte nicht unfair sein – tatsächlich ist mein gesamtes Leben ein ausnahmsloser Quell der Freude. Dennoch sehe ich gerne fern. Muss ich mir abgewöhnen. Dringend.

 

22:47: Es wird Zeit für die zweite Hälfte meiner täglichen, allgegenwärtigen Kontemplation. Ich begebe mich zu diesem Zweck in meinen heiligen Raum und wiederhole das Procedere des Vormittags. Immer noch ohne die Passage der Neukodierung, versteht sich. Geht leider nicht anders. Die Post ist schuld: Sollen sie doch endlich meine DNS rausrücken. Rief ich doch heute auf dem Postamt an, und sie behaupteten, sie hätten derlei Sendung nie zu Gesicht bekommen. Von wegen... Meine Vermutung ist vielmehr, dass sich da jemand die Neukodierung ganz besonders einfach machen und sich zudem erhebliche Kostenersparnis verschaffen wollte. Hat sich bestimmt einer einfach meinen DNS-Strang unter den Nagel gerissen. Ich werde morgen unverzüglich Beschwerde einreichen.

 

02:10: Ebenfalls meine Selbstbesinnung wäre für heute erledigt. Nun wird es nur noch darum gehen, meine spirituell heilsbringende Kassette zu hören, wobei ich von dieser "Zur unmittelbaren Erleuchtung" spreche. Sie wird sicher jedem spirituell Aufgeklärten ein Begriff sein. Wirklich wichtig ist, dass ich besagte Kassette jeden Tag, sowie kontinuierlich über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten höre - denn die "unmittelbare Erleuchtung", die kann ich sonst vergessen. Die letzte Aufgabe für diesen Tag wird sein, voll inneren Friedens einzuschlafen. Mit dem Einschlafen habe jedoch in der Regel keinerlei Schwierigkeiten. Ganz im Gegensatz zu den mir unerklärlichen Aufwachstörungen. Nun ja, morgen werde ich die geistige Welt hierzu befragen. Sofern ich dazu kommen sollte.

 

03: 19: Das Hörspiel ist beendet. Ich schließe die Augen, danke der geistigen Welt für diesen wundervollen Tag – und denke kurzfristig daran, dass ich in etwa zwei Stunden wieder aufstehen muss. Ein Gedanke, denn ich flugs wieder vertreibe. Schließlich will ich keinesfalls undankbar sein.  

 

Gesegnet sei das spirituelle Dasein. Gesegnet das befreiende Bewusstsein.

 

Denn befreiend wirkt mein Bewusstsein. Da bin ich mir sicher.

 


aus der Reihe: (Wider)Sinne | © 2oo5, Saskia Katharina Krost