Kaum etwas gestaltet sich heiterer,
als ein Ausflug in die 'spirituelle Szene'. Denn dort, wo wir
meinen, den Göttern extraordinär nahe zu sein - menschelt es häufig
ganz besonders...
Eine spirituelle Freundin besitzt das
Wir-Bewusstsein für Lichtarbeiter. Ich weiß nicht genau, was es mit
dem Zusatz "für Lichtarbeiter" auf sich hat, aber sie sagt,
benanntes Empfinden hätte ihr gesamtes Leben verändert. Sie schwärmt
von seinem hohen Tragekomfort, berichtet, dass es samtweich und
streichelzart auf der Haut liegt, als auch, dass es mit keiner
Wäsche an seiner Leuchtkraft und Farbintensität verliert. Ihr
Einheitsempfinden ist rosa-violett mit kleinen weißen Herzchen, die
bei Dunkelheit fluoreszieren. Es passt wirklich ausgezeichnet zu
ihrer neuen weißen Tunika, die sie im Kreise der ihr Gleichgesinnten
zu tragen pflegt. Und diese Gleichgesinnten müssten - nach Adam
Riese und Definition des all-umfassenden Wir-Bewusstseins - ab hier
an eigentlich von jedem Wesen und jeglicher Seinsform verkörpert
werden. Weltweit – was rede ich, im gesamten
Universum! Ich meine "Alles" ist schließlich immer noch "Alles".
Du meine Güte, wie wundervoll. Schade,
dass nicht auch ich dazu gehöre. Denn ist es nicht eine
wunderschöne Vorstellung, in einer grenzen- und schrankenlosen
Gemeinschaft aufgehoben zu sein, die durch Freiheitlichkeit und
Toleranz gekennzeichnet ist, in der wir einander innig verbunden, uns
angenommen und geborgen
fühlen? Eine Gemeinschaft, in der wir
uns zwar als individuell und dennoch allesamt als unterschiedslos, als Kinder Gottes
und
gleichberechtigt erachten? Ich finde dies fürwahr eine entzückende
Vorstellung. Und in der Tat: Das ist Wir-Bewusstsein.
Formvollendetes, göttliches Wir-Bewusstsein. Ich zitiere aus mir
vorliegender Produktinformation:
"Wir-Bewusstsein ist die spirituelle
Erfahrung der grundlegenden Verbundenheit allen Seins. Wir haben es
hier mit einem qualitativ hochwertigen und an seinen Randnähten
erstklassig verarbeiten Einheitsdenken zu tun, das unserem Ich sehr
viel Freude bereiten wird. Dies, da es sich dank seiner Hilfe in den
Kontext einer umfassenderen Ganzheit erhebt. Leitsatz: Ich bin
wir. Fortan sehen wir Einheit, Verbindung, Gleichheit und
Gleichberechtigung, wo wir vormals Trennung, Andersartigkeit und
Unterschiedlichkeit wahrnahmen, als auch den messenden Vergleich
unser Erfahren prägen ließen. Indessen ist es nicht vorrangig die
äußere Welt, die sich ändert – es ist unser Bewusstsein und unser
Empfinden, das den ersten Schritt gen einer neuen Zukunft setzt."
Klingt wirklich gut.
Und ich möchte noch etwas bemerken:
Derartiges Wir-Bewusstsein gibt es bereits. Jawohl, hier, mitten
unter uns, auf dem Planeten Erde. Und zwar in ausgesuchten,
exquisiten Kreisen. Genaugenommen in den Reihen der spirituellen
Brüder und Schwestern. Denn hier wird uns bereits zu diesen Tagen
vorgelebt, was uns einstmals allen Herrlichkeit gereichen wird:
Passgerechtes Wir-Bewusstsein.
Dennoch werde ich nachfolgend
feststellen müssen, dass es nicht ganz einfach ist, in den Besitz
meines persönlichen Wir-Bewusstseins zu kommen. Denn in der Tat
scheint es nicht das Alltäglichste zu sein, in die Erfahrung der
allumfassenden, herrlichen Einheit allen Seins zu gelangen. Dies, um
mich somit unwiderruflich dem göttlichen "Alles" hinzuzählen zu
dürfen. Noch, dass dieses "Alles" eine leicht zu verstehende
Konstruktion wäre. Ich kann hier jetzt nicht erklären, warum das so
ist. Es ist eben so.
Sofern ich aber erwäge, besagtes
Wir-Bewusstsein und Einheitsdenken umgehend zu erwerben, und ich
erwäge dies nach wie vor, habe ich einem standardisierten
Bestellverfahren zu folgen: Ein etwa zehnseitiges Formular wartet
darauf, um meine persönlichen Angaben bereichert zu werden. Wird
schon schief gehen.
Zum ersten ist es erforderlich, dass
ich zum Zweck des gewünschten Erwerbs meines ureigenen
Wir-Bewusstseins nachweislich der spirituellen Gemeinschaft dieser
Erde angehöre. Oder aber derselben unverzüglich beitrete. Leuchtet
ein. Denn lediglich innerhalb dieses Verbunds wird es mir möglich
sein, bereits zu diesen Tagen Einheitsdenken und Wir-Bewusstsein in
vortrefflicher Qualität zu erstehen - bisher der einzige
vertrauenswürdige Lieferant. Darüber hinaus kann das hochqualitative
Bewusstsein "Wir sind alle eins und gleich" keinesfalls der ganzen
Welt gereicht werden – höchstens zur Ansicht - und muss aus Gründen
der berechtigten Exklusivität vorerst in erster Linie spirituellen
Mitgliedern vorbehalten bleiben. Kein Problem, meine ich, habe ich
einer vornehmlich weltlichen Sicht doch bereits vor Jahren und
Jahrzehnten abgeschworen. Und mich seitdem in die Arme einer
spirituellen Betrachtung begeben. Ein Nachweis erfolgter
langjähriger spiritueller Theorie und Praxis wird sich jedoch
sicherlich auftreiben lassen. Doch halt, ich werde darauf
hingewiesen, dass es leider nicht ausreicht, mich einzig als
exklusives Clubmitglied der spirituellen Gemeinschaft des Planeten
Erde auszuweisen, um hochwertiges Wir-Bewusstsein zu erhalten.
Vielmehr habe ich zu benennen, in welcher Weise ich
spirituell bin. Bedeutet: Wie ist meine persönliche Spiritualität
beschaffen, wie würde ich sie exakt kategorisieren und detailgetreu
klassifizieren? Bin ich ein Lichtarbeiter? Ein Sterngeborener? Ein
Tantriker, ein spiritueller Physiker, ein Zen-Buddhist? Bin ich ein
Christus-Experte, ein Engelwesen oder ein Mitglied des
Ashtar-Kommandos? Kann ich channeln, beherrsche ich OBE auf Abruf
und habe ich Erfahrung mit periodisch auftretenden
Erleuchtungszuständen? Betreibe ich Yoga, Reiki und/oder mediale
Malerei oder kann ich wenigstens ein klein wenig heilen? Bin ich der
esoterisch Praktizierende mit Hang zur alternativen Szene oder der
Alternative mit Hang zur esoterischen Praxis? Und überhaupt: Würde
ich mich im allgemeinem Sprachgebrauch eher als esoterisch oder
vielmehr als spirituell bezeichnen? Oder pendel ich gar nur ein
bisschen? Oder aber: Falle ich etwa unter Sonstiges?
Meine Güte, ich wusste gar nicht, dass
das so kompliziert wird. Der Einfachheit halber mache ich mein Kreuz
bei "Sonstiges". Damit werde ich jedoch auf unmittelbar
anschließende Frage verwiesen: "Bitte teilen Sie uns mit: Was genau
bezeichnet 'Sonstiges'? Ist ihre spirituelle Spezialisierung
anerkannt? Wenn ja, von wem? Wie viele spirituelle Brüder und
Schwestern teilen ihre Gesinnung? Nennen Sie uns jeweilige Namen und
Anschriften, um uns die Möglichkeit einer angemessenen Überprüfung
zu gewähren!" War wohl doch nicht so klug. Ich kehre zurück zu
vorhergehender Frage, nehme meinen Radiergummi zur Hand und
korrigiere: "Lichtarbeiter". Ich hoffe, dass das jetzt gut geht. Es
folgt die Frage: "Sind Sie überzeugt ob des Aufstiegs?" Ja, gewiss
bin ich das - was auch immer das heißen mag. Die nächste Frage
lautet: "Wer oder was ist St. Germain? 1. Ein Aufgestiegener Meister
des violetten Strahls, 2. Eine Methode zur Erhöhung der
Schwingungsfrequenz dieses Planeten oder 3. Ein kleines,
französisches Auto, das allein kraft des Lichts angetrieben wird?"
Hm, ich denke es ist das Auto. Ich glaube mich zudem zu erinnern,
dass ein Bekannter besagtes Gefährt vor kurzem käuflich erworben
hat. Ich wusste allerdings nicht, dass er nur Licht tankt. Praktisch
eigentlich. Nun gut, wo geht es weiter? Ich erhalte im Anschluss
Auflösung meiner Wahl: "Sie sind definitiv kein
Lichtarbeiter. Es tut uns leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass wir
Ihnen das Wir-Bewusstsein für Lichtarbeiter unter diesen Umständen
auf gar keinen Fall aushändigen dürfen. Entsprechendes
allumfassendes Einheitsbewusstsein ist ausschließlich ausgewiesenen
Lichtarbeitern vorbehalten. Bitte versuchen Sie Ihr Bedürfnis nach
Gleichheit und universeller Gemeinschaft anderweitig zu stillen."
Na, vielen Dank. Da ich
zwischenzeitlich auf Kugelschreiber umgestiegen bin, kann ich nun
auch nicht mehr radieren. Ich habe jedoch den Verdacht, dass die
streng sind, was ihr Wir-Bewusstsein angeht – durchstreichen kommt
folglich nicht in Frage. Ich war mir allerdings auch zu
sicher. Ich fordere demnach das Bestellformular erneut - sowie
umstandshalber in zwanzigfacher Ausführung - an, spitze alle mir
verfügbaren Bleistifte und mache mich ein paar Tage später erneut an
die Arbeit. Hier nun wähle ich: "Tantriker". Ich denke, davon habe
ich etwas mehr Ahnung. Allerdings scheitere ich bereits zwei Fragen
weiter, als es nämlich darum geht, die historischen Ursprünge und
spirituelle Zielsetzung des Tantras zu benennen. Meine Güte, ich
dachte es geht um Sex! Also wieder nichts. Auch mit dem
Wir-Bewusstsein für spirituelle Physiker, Zen-Buddhisten und
esoterisch Praktizierende mit Hang zur alternativen Szene wird es
nichts. Allesamt gänzlich verschiedene Sparten der All-Einheit,
versteht sich, Gruppen mit spezifischem Vokabular, unterschiedlichem
Ansatz und ganz und gar eigenen Lehrdoktrinen. Und selbstredend
ihrem eigenen Wir-Bewusstsein. Und genau darauf habe ich es
abgesehen. Wozu ich benannte Inhalte kennen müsste - und sei es
diejenigen eines einzigen Wir’s. Zumindest dann, wenn ich die
Einheit und Gleichheit allen Seins erfahren will. Und das will ich.
Ohne jeden Zweifel.
Mittlerweile bin ich von besagtem
Formular bereits belehrt worden – meine meistenteils unzutreffenden
Antworten blieben demnach nicht unberücksichtigt: "Setzen Sie sich
im Angesicht des vortrefflichen Wir-Bewusstseins bitte eingehend mit
folgender Aussage auseinander: Gleich und gleich sind noch lange
nicht dasselbe." Oder: "Wir-Bewusstsein und Einheitsdenken sind
äußerst diffizile Tatbestände, die beiderseits mit einer komplexen
Struktur und einem feinsäuberlichen Gefüge aufwarten. Bitte machen
Sie sich mit deren hierarchischer Anordnung vertraut und lernen Sie,
sich selbst klar und eindeutig zuzuordnen." Auch mein
zwischenzeitlich verzweifelter Anruf beim Kundenservice,
spiritueller Beratungsdienst für den Erwerb eines eigenen
Wir-Bewusstseins, ergibt keine befriedigende Auskunft. Wie das denn
wäre mit: "Wir sind alle eins und gleich", "Wir sind allesamt Kinder
Gottes" und "Wir machen keinerlei Unterschiede"?
Gewiss seien wir alle eins, spricht
mein Berater, aber mit der Unterschiedslosigkeit, das würde ich
geringfügig missinterpretieren. Denn selbstverständlich wären wir –
insbesondere wir, die spirituell Wir-Bewussten - allesamt Brüder
und Schwestern – aber keinesfalls seien wir ein bunter Haufen. Und
wenn ich mich weiterhin so aufregen würde, dann wäre ich sowieso
gänzlich ungeeignet für den Erwerb eines hochstehenden
Wir-Bewusstseins. Wir-bewusste Menschen seien ausnahmslos
friedliche, freundliche und Einigung schaffende Wesen.
Indessen bin ich zu der Überzeugung
gelangt, dass dieses Wir-Bewusstsein ein wahrlich tolles Ding sein
muss. Ich werde mich demnach weiter bemühen, dem elitären Kreise der
wir-bewussten Physiker, Zen-Buddhisten oder welcher wir-bewussten
Spezies auch immer anzugehören. Ich muss sehen, bei wem ich einen
Fuß in die Tür kriege. Ausdrücklich weist mich benannter
Kundenberater darauf hin, dass ich keinesfalls mehr als zwei
Varianten des exklusiven Wir-Bewusstseins erstehen darf, um
hochsensiblen Aufbau und notwendiges Klassenwesen besagten
Bewusstseins unter keinen Umständen zu gefährden. Sofern mir aber
tatsächlich noch ein Wir-Bewusstsein zugestanden werden wolle (ich
habe das Gefühl, er glaubt nicht wirklich daran), solle ich mich
bitte strikt von Mitgliedern anderer wir-bewussten Wir-Bewusstseine
fernhalten. Zusammenarbeit und gegenseitiges Verständnis gingen noch
viel weniger. Denn unschöne Vermengungen und Vermischungen – das
wäre sicher das letzte, was das Wir-Bewusstsein gebrauchen könne. An
mir soll es nicht liegen, ich hoffe nur, dass ich mich überhaupt
noch wert eines Wir-Bewusstsein erweise. Irgendeines. Ist mir egal
welches. Ich verspreche daher, mich im Fall der Fälle kategorisch an
diesen Punkt zu halten, und nehme mir das siebzehnte Exemplar der
von mir angeforderten Formularausdrucke vor.
Drei Tage später habe ich Glück. Was
heißt Glück – einzig der Erfolg von Muße, Hingabe und zwei Dutzend
Bleistiften. Und natürlich ein wenig Kombinationsgabe. Ich erhalte
tatsächlich den Zuspruch für das Wir-Bewusstsein des
Christus-Experten und gleichfalls für das Wir-Bewusstsein des
Mitglieds des Ashtar-Kommandos. Da kommen mir christliche Erziehung
und Religionsunterricht wohl doch noch zugute. Und, nun ja, hier und
da ein wenig Raumschiff Enterprise. Egal, Wir-Bewusstsein ist
Wir-Bewusstsein. Ist es ganz und gar nicht, ich weiß – die
Unterschiede sind beträchtlich. Dennoch bin ich froh, immerhin zwei
ganze Wir-Bewusstseine zu erwerben und das Maximum an Zulässigkeit
damit eben einmal ausgeschöpft zu haben.
Und es lohnt: In den nächsten Tagen
werde ich meine beiden Wir-Bewusstseine erhalten ("meine beiden
Wir-Bewusstseine", klingt mir noch ganz ungewohnt, aber ein sehr
schönes Gefühl), werde den Segen der allumfassenden, herrlichen
Einheit allen Seins erfahren und in den Genuss wunderbar gerechter
Passform und hochwertigen Tragekomforts gelangen. Es soll mich daher
kaum kümmern, dass ich von meinen einstigen spirituellen Gefährten
größtenteils Abschied nehmen muss. Denn von nun an leben wir in
verschiedenen Welten. Der Grund, weshalb das mit dem globalen
Wir-Bewusstsein auch schon hinkommt. Schließlich haben wir jetzt
jeder eine eigene Welt. Es soll mir gleichfalls nichts ausmachen,
dass ich meine Garderobe geringfügig umstellen werden müsse -
schließlich warten meine spezifischen Wir-Bewusstseine mit jeweils
kuriosen Farbkombinationen auf. Einzig im Sinne der unzweifelhaften,
eindeutigen Zuordbarkeit meines Wesens natürlich. Aber ob es gleich
"Variationen des Kanarienvogel" und "Schlumpf trägt Schottenkilt"
hätten sein müssen – ich weiß ja nicht. Ich werde sehen, was ich
dazu anziehen kann. Das Wir-Bewusstsein für Lichtarbeiter hätte
farblich wahrlich besser gepasst. Nicht zu ändern.
Dafür darf ich nun mit den
Christus-Experten und Mitgliedern des Ashtar-Kommandos in Nahkontakt
treten, mich mit ihnen – und zwar bitte nur mit ihnen! - für ein
voranschreitendes Einheitsdenken dieser Welt einsetzen und weiterhin
jedwede fremde Artgenossen mit den Worten begrüßen: "Ich bin wir –
und wer seid ihr?" Ganz gleich was sie antworten – sie werden es
nicht leicht haben, der allumfassenden Einheit dieses Universums
beizutreten, von der uns das Wir-Bewusstsein so vorzüglich
berichtet. Denn wie schwierig es ist, eigens endlich "Allem"
anzugehören - davon weiß ich fürwahr ein Lied zu singen.
aus der Reihe: (Wider)Sinne | ©
2oo5, Saskia Katharina Krost