Zu sehen, welche Anstrengungen
Menschen unternehmen, um sich vor Nähe zu schützen, Neurosen und
Verletzung pflegen, nur, um das Du auf sicherem Abstand zu halten,
eigenen Raum verteidigen, als gelte es, diesen vor feindlicher
Übernahme zu bewahren, macht rat- wie verständnislos zugleich. Haben
uns Erziehung, Gesellschaft und Leben unfähig gemacht für die
beliebige unvoreingenommene Begegnung? Sind die Grenzen unseres Ichs
derart labil, dass wir es lieber freiwillig in Ketten legen und im
Kerker verwahren, als es bloß und ungeschützt zu wissen? Geben wir
tatsächlich unsere letzten Geheimnisse preis, wenn wir unser
Innerstes einem Außen offenbaren? Oder aber: Tut Nähe weh...?
Sicherlich stimmt einem die Mehrheit noch darin zu, dass diese Welt
eine bessere wäre, würden wir sie mit Liebe anstelle mit
Distanznahme füllen. Würden wir die Reserve gegen Nahbarkeit
tauschen. Geht es aber darum, diese Nähe eigens zu leben, ziehen wir
oftmals den Krieg dem Frieden vor. Scheitern an unseren Konzepten,
die uns Schutz statt Begegnung empfehlen. Verletzten, um nicht
verletzt zu werden. Rechtfertigen unseren Angriff als Verteidigung -
und waren dennoch nie in Gefahr. Und vollbringen somit nicht im
Persönlichen, was uns im Globalen unbedingte Forderung ist.
Verwundern mag, dass uns Nähe explizit als Hochheiliges, Besonderes
gilt. Denn wenn wir der Nähe immer wieder ihre "Außer-gewöhnlichkeit"
attestieren, dann muss es wohl die Distanz sein, die uns
gewohnt-natürlicher Zustand ist. Ein Schluss, den die
allgegenwärtige Erfahrung lediglich bestärkt. Wir teilen Nähe,
Intimität, Vertrauen mit den wenigen, den Erlesenen, den Geliebten.
Wen oder was teilen wir mit den anderen?
Unsere Annahme ist: Wenn wir uns öffnen, laufen wir Gefahr,
Verletzung zu erfahren. Kaum jemand, der daher nicht über
extraordinäre, raffinierte Schutzmechanismen verfügt, um diesen Fall
nicht zur Regel, sondern zur seltenen bis selteneren Ausnahme zu
machen. Distanz wird zur Norm, Nähe zum Sonderfall. Wir trainieren
den lautlosen Dolchstoß, anstelle die Heilung zu proben, und uns
darüber hinaus im fachkundigen Umgang mit Nähe zu üben. Zu groß ist
unsere Angst, eigens wiederholt Opfer zu werden. Zu ausgeprägt unser
Defizit, Abstand zu gewähren, um trotzdem und gleichwohl in Freiheit
zu lieben. Leben und leben zu lassen, ganz ohne hierbei einen
unempfindlichen Wehrturm für uns und unsere Angst zu errichten.
Opfer, Verletzung, Schutz & Verteidigung – Vokabeln des Kriegs und
nicht solche der Liebe. Und dennoch ist es nicht die Nähe, die uns
oder einen zweiten verletzt. Tatsächlich ist es die Distanz, die
prophylaktische gleichermaßen wie die, die der Nähe folgt, die
einzig und allein Triebfedern des Schmerzes sind. Denn: Nähe tut
nicht weh. Es ist jedes Mal die Distanz, die den Schwertführer mimt.
Nähe macht uns deshalb Angst, da sie die Option auf unfreiwillige
Entfernung in sich birgt. Wir haben Angst vor der Distanz – und
schützen uns vor der Nähe. Folgerichtig oder falscher Schluss?
Was aber, wenn wir beginnen, uns vor Verletzung zu schützen, indem
wir die ursächliche Distanz anstelle der Nähe vermeiden? Wenn wir
lernen, Nähe angstfrei zu gestalten? Was, wenn wir begreifen, dass
unser Ich zugleich trauriges wie freudiges Faktum, niemals aber ein
Grund zur Befürchtung ist? Wenn wir die Nähe zum natürlich-gewohnten
Zustand erheben, und die Distanz wiederum auf den Platz des
unbedingten Sonderfalls verweisen? Was, wenn wir endlich Nähe mit
den vielen und Distanz mit den wenigen teilen?
Schon einmal versucht?
Diese Welt braucht
unsere Einsicht.
Nähe – unser
schwerstes Stück?
© 2oo6, Saskia Katharina Krost