Selbstbilder


 

Kaum etwas gestaltet sich heiterer, als ein Ausflug in die 'spirituelle Szene'. Denn dort, wo wir meinen, den Göttern extraordinär nahe zu sein - menschelt es häufig ganz besonders...

 

Ich bin, wer ich denke, der ich sein sollte. Insofern ist das mit dem Selbstbild eine äußerst praktische Angelegenheit. Denn immerhin gewährt es mir eine Menge Spielraum meiner persönlichen Selbstbetrachtung. Erinnere: Wahrnehmung ist subjektiv. Deshalb ist es auch keinerlei Problem, mit Hilfe unseres Selbstbildes anzunehmen, wir wären schön, intelligent, interessant und sexy.

 

Nehmen wir beispielsweise mich: Ich bin schön, intelligent, interessant und sexy. Und das stimmt jetzt wirklich. Tatsache ist, dass ein zweiter, dritter oder vierter zwar anderes behaupten können wird, aber – er wird kaum Recht behalten. Ich wiederhole: Wahrnehmung ist subjektiv. Nicht aber die meine.

 

Beweis der mir soeben zugesprochenen Raffinesse (vgl.: ich bin intelligent) stellt der Umstand dar, dass ich darüber hinaus vorrangig Menschen zu meinen Freunden mache, die mir mein Selbstbild bestätigen. Sprich: Menschen, die von mir annehmen, was ebenfalls ich von mir annehme. Und somit Menschen, die ohne jeden Zweifel wissen (und gegebenenfalls auch unter Eid beschwören), dass ich schön, intelligent, interessant und sexy bin. Wen interessiert es, wenn ich es nicht bin? Weiß ja keiner. Siehe: Noch nicht einmal ich selbst.

 

Wer allerdings ernsthaft daran interessiert ist, sein formschönes, jahrelang bewährtes Selbstbild fortführend aufrechtzuerhalten, sollte ein wenig Acht geben, welche Wege er in seiner spirituellen Beschäftigung beschreitet. Merke: Nicht jede Praxis ist geeignet, um unserem wohlproportionierten Selbstbild auf Dauer angemessenen Rückhalt zu bieten. Aber: Solange es uns gelingt, uns ausschließlich an unsere Interpretationen, Mutmaßungen und persönlichen Überzeugungen zu halten, werden wir auch weiterhin viel Freude mit unserem Selbstbild haben. Und diese Freude - mittels einigem Geschick und dank ausgesuchter spiritueller Praxis - sogar unter Umständen noch um etliches steigern können.

 

Der schöne, intelligente, interessante, sexy und gleichfalls spirituelle Mensch kann somit jegliche Erkenntnis, die er im Rahmen seines spirituellen Engagements erwirbt - nehmen wir beispielsweise Reinkarnation, Sternensaat oder aber geistige Hierarchien - wunderbar in geeigneten Dienst seines Selbstbildes stellen. Er wird daher herausfinden - meint interpretieren, mutmaßen und ureigene Überzeugung sein lassen - dass er in einem früheren Leben vorzugsweise Kleopatra gewesen sei, hiernach als Albert Einstein inkarnierte und schlussendlich für zwei, drei Leben den Planeten wechselte, um auf dem Mars frische Luft zu schnuppern. Was selbstverständlich nicht eben  einmal jedem Wesen gewährt sein möchte. Anschließend ging er, zurückgekehrt auf den Planeten Erde, als erster oder erste Mister oder Miss Universe in die Geschichte ein. Und hier und heute? Hier und heute ist er eigentlich ganz zufällig da. Genaugenommen ist er von der geistigen Hierarchie gesandt worden – deren oberen Ligen er zweifellos angehört - um diese Welt von Unwissen und Barbarei zu befreien. Ein anspruchsvolles Großprojekt – niemand könnte dies besser wissen als er.

 

Bis hierhin stimmt also alles überein. Besagtes Wesen ist schön, intelligent, interessant und sexy. Und spirituell. Nicht zuletzt seine spirituelle Vita gibt ihm ausreichend Rückhalt und Recht. Daher: Selig die spirituelle Praxis, die uns herausfinden lässt, was wir sowieso längst wussten.

 

Schon etwas schwieriger wird das mit unserem formschönen und jahrelang bewährten Selbstbild, wenn ich mittels spiritueller Theorie und Praxis etwas tiefer in mein Sein und Wesen einzudringen wünsche. In der Tat ließe sich auch diese Klippe gefahrenlos umschiffen, wenn ich nämlich schlicht imstande wäre, mein Selbstbild tapfer und wacker gegen jeden Widerstand zu verteidigen. Eine gehörige Portion Selbstvertrauen, Härte, Robustheit sowie ein überbordendes Ego stehen uns zu diesem Zweck unverzagt und unentwegt zur Seite. Aber: Ich sprach davon, dass ich schön, intelligent, interessant und sexy wäre. Ich sagte nicht, dass ich robust, hart und voller Selbstvertrauen wäre. Und mein Ego? Nun ja, es ist schlicht und einfach in manchen Fällen etwas defensiv und unzuverlässig (sicherlich eine kaum nennenswerte Schwäche von ihm). Und lässt mich daher kaum selten im Stich, wenn es darum geht, stichhaltige Argumente zu finden, weshalb Tatsache ist, dass ich so bin, wie ich denke, dass ich sein sollte.

 

Dennoch der Reihe nach: Nicht nur, dass ich schön, intelligent, interessant und sexy bin, als auch in keiner Weise robust, hart und ganz wie vollkommen von mir selbst überzeugt – ihr durftet mich bis hierher schon sehr gut kennen lernen - nicht doch, bis vor kurzem nahm ich ebenfalls an, dass ich ein soziales, überaus mitfühlendes und politisch überkorrektes Wesen wäre.

 

Ich sagte: Bis vor kurzem. Denn vor kurzem beging ich einen gravierenden Fehler: Ich suchte ein medial versiertes Wesen auf, um es für mich ein wenig in meinen zurückliegenden Inkarnationen stöbern zu lassen. Sprich: Es sollte in der Akasha-Chronik für mich lesen. Wunderschön stellte ich mir das vor.

 

Zur Erklärung: Die Akasha-Chronik ist eine gewaltige Datenbank der Ewigkeit, eine Art Mega-Gedächtnis der Welt. Gewissermaßen ein feinstofflicher 'Super-Computer', in dem sich alles und jedes gespeichert findet, was auf der Erde jemals geschehen ist, gedacht oder gefühlt wurde. Exakt und detailgetreu. Folgerichtig findet sich in besagter Akasha-Chronik jedoch nicht nur das Tun und Wirken jeden Seins dieses Planeten – sondern vor allem auch das Tun und Wirken meines gesammelten Seins. Und zwar von Anbeginn der Zeiten bis hier und heute. Äußerst interessant nachzulesen, kann ich Euch sagen - insbesondere wenn es um Bestätigung unseres eigens proklamierten Selbstbildes geht. Jedes Medium wird uns diesen Dienst jedoch gerne erweisen. Für eine kleine finanzielle Aufwandsentschädigung. Oder auch: eine etwas größere.

 

Behalten wir nachfolgend bitte unbedingt im Gedächtnis, dass sich in besagter Chronik das Tun und Wirken x-beliebigen Wesens aufgezeichnet findet, und wir hier demzufolge mit einer schier unglaublichen Menge von Daten zu tun haben – dieser Punkt wird sich noch als äußerst relevant erweisen.

 

Mein Anliegen mit Besuch genannten Mediums war tatsächlich, meinem Selbstbild erneuten Auftrieb zu verschaffen, denn mittlerweile langweilte ich mich geringfügig mit dem Wissen, Kleopatra, Einstein, Mister oder Miss Universe und schließlich Marsianer gewesen zu sein. (Jawohl, angeführte Beispiele waren keineswegs zufällig gewählt – ich war das!)

 

Ich brauchte tatsächlich neue Frische, um Formschönheit weiterhin Formschönheit sein zu lassen, und nicht zuletzt um meinen repräsentativen Pflichten nach wie vor ausreichend selbstherrlich gerecht werden zu können. Angeführtes Medium aber fand weder Kleopatra, noch Einstein, noch Mister oder Miss Universe und auch nicht meine Zeit auf dem Mars in meinem Werdegang verzeichnet. Dafür fand sie anderes. Schier ungeheuerliches.

 

Ich bin mir mittlerweile sicher, dass sie schlicht die Akten verwechselte. Erinnern wir, wie erbeten: In der Akasha-Chronik findet sich nicht allein mein Tun und Wirken, sondern gleichwohl dasjenige allen Seins und Wesens – von Anbeginn der Zeiten bis hier und heute. Wie leicht kommt man in dieser Fülle von Daten und Akten aber durcheinander. Was besagtes Medium demhingegen in meiner Akte zu finden meinte – ich weiß nicht genau, was ich davon halten soll.

 

Gedenke: Ich bin schön, intelligent, interessant und sexy. Bis vor kurzem war ich zudem sozial, überaus mitfühlend, aufopferungsvoll und politisch äußerst korrekt. Wie soll dies nun bitteschön damit übereinstimmen, dass ich in vergangenen Inkarnationen angeblich belogen und betrogen, verraten und intrigiert haben soll? Passt nicht zusammen? Sage ich ja. Sie muss ohne Zweifel die Akte von einem anderen Wesen gegriffen haben. Es gibt ja auch wirklich zu viele von ihnen. Vielleicht war vorliegende Akte die von Sascha Krost, von Saskia Katharina Rost oder vielleicht auch jene von Saskia Kost. Ich habe keine Ahnung. Ist mir auch egal. Naja, ganz egal ist es mir nicht. Eigentlich überhaupt kein bisschen. Tatsächlich habe ich in der Zwischenzeit recherchiert. Ausgiebigst. Überall. Weltweit. Ohne Ausnahme. Lassen einem ja keine Ruhe, diese unverfrorenen Vorwürfe. Und siehe da: Es gibt eine Saskia Kost. Genaugenommen eine einzige – in Lappland. Ich habe mir vorgenommen, sie bei Gelegenheit zu kontaktieren und ihr von ihren unglaublichen Schandtaten zu berichten. Mir bleibt leider keine andere Wahl - ist es doch für unsere seelische Evolution von eminenter Bedeutung, dass wir uns selbst in die Augen blicken, Verantwortung für unsere Taten übernehmen und unser subjektives Selbstbild Tatsächlichem entsprechend anpassen. Und ich meine zu wissen, dass werte Frau Saskia Kost in Lappland in dieser Hinsicht ein überdeutliches Defizit hat. Nicht nur, dass sie von ihren Missetaten bisher bestimmt nichts weiß, nein - sie schiebt sie darüber hinaus auch noch mir in die Schuhe!

 

Meine mediale Beraterin indessen spricht, dass es häufiges und weit verbreitetes Phänomen wäre, dass wir uns selbst als das genaue Gegenteil von dem erachten, wer oder was wir tatsächlich seien - insbesondere, wenn es um abgelehnte, weil negativ bewertete Selbstanteile ginge. Nun gut, ich meine - erzähle ich ihr, dass sie in Wahrheit eine Blattlaus wäre? Ganz offensichtlich ist sie dies nicht. Mir aber soll demnach absolut unklar bleiben, was sie mir hier wiederum gerade weiszumachen versucht. Mediale Beraterin klärt mich ferner darüber auf, dass unser positives Selbstbild fortwährend danach verlangt, von uns aufrecht erhalten zu werden. Dieses aber realisieren wir, indem wir unsere eigens verleugneten Eigenschaften ganz einfach in die Außenwelt projizieren. Und somit ausschließlich bei anderen wahrnehmen, was wir bei uns selbst nicht wahrzunehmen wünschen. Na, bitte, da haben wir es ja. Meine Beraterin projiziert auf mich! Tatsächlich liest sie also aus ihrer eigenen Akte. Ich werde mich bei Frau Saskia Kost in Lappland entschuldigen müssen. Obwohl, bisher weiß sie ja noch gar nichts von ihren vermeintlichen Übeltaten. Ist vielleicht auch besser so. Zu übel diese Taten.

 

Und schließlich berichtet meine mediale Beraterin, dass unsere ärgsten Widersacher und abgelehnten Menschen zumeist diejenigen Wesen wären, die uns unsere verleugneten Selbstanteile andauernd widerspiegeln. Die uns also in Wahrheit ähnlich und artverwandt seien. Wir jedoch würden vehement gegen alles und jeden vorgehen, der oder das uns unser gewohntes Selbstbild zunichte zu machen drohe - Tatsachen, die wir natürlich ebenso weit von uns schieben.

 

Also mittlerweile geht mir meine liebe Beraterin wirklich auf den Keks. Merkt sie denn nicht, dass sie andauernd versucht, von sich selbst abzulenken? Ausschließlich andere zum Buhmann machen, das haben wir gerne. Merkt sie denn nicht, was für ein kämpferisches, egozentrisches und dominantes Wesen sie tatsächlich ist? Das geht ja wohl gar nicht. Ich werde sie auf meine schwarze Liste setzen. Oder am besten gleich erschießen. Und eine Weiterempfehlung kann sie sich auch abschminken. Vielleicht hat sie ja irgendein Problem mit mir, wer weiß. Oder sie hat überhaupt irgendein Problem. Also davon gehe ich jetzt mal im mindesten aus.

 

In der Zwischenzeit spricht meine mediale Beraterin, dass ich tatsächlich ein sehr kämpferisches, egozentrisches und dominantes Wesen wäre. Na toll, kann ich jetzt auch hellsehen oder wie? Dachte ich selbes nicht gerade über sie? Anscheinend projiziert sie schon wieder auf mich. Oder projiziere ich gerade auf sie? Ich blicke hier irgendwie nicht mehr durch. Doch: Woher wusste ich, welche Eigenschaften sie exakt gleich nennen würde? Ist sie hier das Medium oder ich? Aber Moment: Unter Umständen projiziere ich ja nur auf sie, sie wäre ein Medium – und in Wahrheit bin ich das Medium. Also das würde mir jetzt logisch einleuchten.

 

Dies hieße im Umkehrschluss aber auch, dass sie kämpferisch, egozentrisch und dominant wäre – und nicht ich. Ich bin ja das Medium. Na bitte, ist doch wieder alles im Lot. Ich scheine begriffen zu haben.

 

In einer Sache ist sie aber schlicht zu weit gegangen, Selbstbild, subjektive Wahrnehmung und Projektion hin oder her. So behauptete sie tatsächlich, dass meine Lektion des Mitgefühls faktisch noch ausstehe, ich weder sozial noch aufopferungsvoll wäre, und dass ich auch die 'politische Korrektheit' in vergangenen Inkarnationen zu einer äußerst dehnbaren Begrifflichkeit hatte werden lassen. Na klasse, was soll das jetzt wieder? Doch sie ist noch nicht einmal fertig mit ihren Ausführungen. So spricht sie weiter, dass mir insbesondere Jahrhunderte zurückliegende Zeiten lieb und teuer gewesen wären, und ich in diesen Leben mit Vorliebe Kämpfe ausgefochten, gemordet und erschlagen hätte. So, jetzt reicht's aber wirklich. Das soll sie erst einmal beweisen. Ich wünsche stichhaltige Indizien, bevor sie derlei unverfrorene Anschuldigungen tätigt. Ich fordere genaues Datum, Ortschaft, vor allem aber exakte und sekundengetreue Uhrzeit, zu welcher diese Taten vermeintlich stattgefunden haben sollen. Ich bin mir zweifellos sicher, dass ich über ein wasserdichtes Alibi verfüge. Bestimmt war ich gerade auf dem Mars oder so. Ganz abgesehen davon, dass ich mich an keines dieser Leben erinnern kann. Ganz im Gegensatz zu Kleopatra und Konsorten. Frechheit so was. Jetzt mal im Ernst.

 

Zum Abschluss gibt sie mir schließlich sinngemäß mit auf den Weg, ich solle mich noch  anstehender Aufgaben annehmen und somit das Mitgefühl erlernen. Womit ich jetzt nun wirklich nichts anzufangen weiß. Steht vielleicht jemand hinter mir? Oder sehe ich etwa aus wie jemand, den sie kennt? Ich weiß einfach nicht, mit wem sie spricht. Ach so, sie spricht nicht mit mir - sie spricht mit sich selbst. Scheint schon eine vertrackte Sache mit diesem Selbstbild, der Projektion und so, muss ich mich schließlich auch erst dran gewöhnen. Aber kann sie bis dahin nicht etwas leiser mit sich sprechen? Nun gut, ich verzeihe ihr. Schließlich bin ich mitfühlend.

 

Jedem aber, dem etwas an seinem formschönen und jahrelang bewährten Selbstbild liegt, möchte ich dringend nahe legen, spirituelle Theorie und Praxis mit Bedacht anzugehen, sorgfältige Wahlen zu treffen und sich keinesfalls beirren zu lassen. Vor allem nicht von einem Ding, das kurioserweise unter dem Titel "selbstehrliche Eigenschau" läuft. Haltet euch hiervon besser fern, ihr werdet hiernach eurer formschönes Selbstbild vermissen. Welcher Abschied ohne Zweifel schmerzhaft ist.

 

Umsonst war dargelegte Aufklärung trotzdem nicht. So weiß ich heute jedwedem Menschen, der mir sagt, dass ich ein kämpferisches, egozentrisches und dominantes Wesen wäre, erwiesenermaßen zu entgegnen, dass er ausschließlich persönliche Eigenschaften auf mich projizieren würde. Und daher nicht von mir, sondern einzig und allein von sich selbst sprechen würde. Immerhin diesen Punkt habe ich begriffen. Und noch etwas habe ich aus dieser Sitzung mitgenommen: Ich war nicht nur Kleopatra, Einstein, Marsianer und Mister/Miss Universe – nein, heute weiß ich auch, dass ich ein Medium bin. Habe ich ja schließlich lange genug projiziert diesen Punkt.

 

Ich bin, wer ich denke, der ich sein sollte. Und da ich außer schön, intelligent, interessant und sexy endlich ebenfalls sozial, mitfühlend, aufopferungsvoll und politisch korrekt sein sollte, so riet mir meine mediale Beraterin, denke ich einfach kurzum, dass ich es wäre. Und siehe da, schon bin ich es.

 

Mediale Beraterin bin ich heute übrigens auch. Und was den gesamten Rest angeht: Wen interessieren schon subjektive, projizierte Fremdbilder? Niemanden. Ist doch sowieso nichts dran. Meine Güte, ist doch ganz simpel.

 


aus der Reihe: (Wider)Sinne | © 2oo5, Saskia Katharina Krost